Freie Beweiswürdigung (I) – Das Urteil des LG Chemnitz

Ausgangslage

Am Donnerstag, dem 22.08.2019, hat das Landgericht Chemnitz einen 24-jährigen Syrer unter anderem wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neuneinhalb Jahren verurteilt. Das ist – auch für eine solche Tat – vergleichsweise sehr viel. Es gab eine umfangreiche, qualitativ sehr unterschiedliche Presseberichterstattung; alles, was der Autor diese Beitrags weiß, weiß er nur aus der Presse: Aber das rechtliche Hauptproblem wird in der Berichterstattung durchgehend deutlich.

Nicht das Problem

Mancherorts wird gemutmaßt, das Gericht hätte sich bei seinem Urteil zumindest auch vom Volkszorn leiten lassen. Kurz nach der Tat war es bekanntlich zu teilweise gewaltsamen Protesten in Chemnitz gekommen, an die sich eine politische Diskussionen um die Bedeutung des Wortes „Hetzjagd“ anschlossen. Die zuständigen Richter haben natürlich weit von sich gewiesen, dass sie sich von irgendwelchen äußeren Begleitumständen hätten beeinflussen lassen. Das ist wenig überzeugend; dazu berichtet ganz instruktiv der Spiegel. Die Diskussion ist allerdings müßig, denn eine Beeinflussung geschieht in aller Regel unbewusst und wird sich weder belegen noch ausschließen lassen. Ob es klug von den Richtern war, sich so zu äußern, steht auf einem anderen Blatt. Es hilft aber auch niemandem, dem Gericht Voreingenommenheit oder gar Rassismus vorzuwerfen. Das eigentlich dahinter stehende Problem ist ein anderes. Ansatzweise herausgearbeitet hat es die Zeit, in einem Interview mit dem Strafrechtsprofessor Matthias Jahn. 

Das Problem

Das eigentliche Problem ist, dass man nach der Berichterstattung gewisse Zweifel daran haben muss, dass das Urteil rechtskonform zustande gekommen ist. Diese Bedenken lassen sich dabei auch durchaus nur mit den der Presse entnommenen Kenntnissen begründen. Denn wie man lesen kann, beruht das Urteil allein auf der Aussage eines einzigen Belastungszeugen; andere Beweismittel gibt es nicht. Keine. Das mutet angesichts der Schwere des Tatvorwurfs befremdlich an; schon beim alten Goethe wird die mittelalterliche Beweisregel zitiert, dass es zur Wahrheitsfindung stets mindestens zweier Zeugen Aussage bedarf (Faust I, Vers 3013 f). Aber Beweisregeln gibt es heutzutage im Strafrecht nicht mehr, dazu einiges später.

Nun war der Zeuge aber nicht nur das einzige Beweismittel, sondern außerdem auch noch unzuverlässiger als Zeugen es ohnehin schon sind. Denn er hat den Täter nur ein einziges Mal gesehen, im Dunkeln, aus 50 Metern Entfernung. Da ist ein verlässliches Wiedererkennen schon nach wissenschaftlichen Erkenntnissen kaum vorstellbar. Trotzdem will er im Angeklagten den Täter wiedererkannt haben. Vor Gericht hat er das sogar noch relativiert, aber dem Gericht hat das gleichwohl gereicht, um den Angeklagten zu verurteilen. Wer nicht aus politischen Gründen bereits eine vorgefasste Meinung hat, muss sich fragen: Wie kann das für eine Verurteilung reichen?

Die freie Beweiswürdigung

Das Gericht ist in seiner Beweiswürdigung frei, oder wie § 261 StPO formuliert: Das Gericht entscheidet über das Ergebnis der Beweisaufnahme „nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung„. Es gibt keine Beweisregeln mehr; mit denen meinte man zu früheren Zeiten schlechte Erfahrungen gemacht zu haben. Früher galt z.  B. die Beweisregel, dass bei einem Geständnis die Schuld des Angeklagten unwiderleglich feststünde. In der Praxis führte das zu mannigfaltigen Formen der Folter, die man nutzte, um endlich an Beweismittel zu gelangen. Auch deshalb hat man Beweisregeln mit der Einführung des reformierten Inquisitionsprozesses abgeschafft. Leider wird das von einigen Gericht dahin missverstanden, dass es überhaupt keine Regeln mehr gäbe, an die Richter sich zu halten hätten. Aber das ist nicht richtig. Es gibt zwar keine Beweisregeln mehr, wohl aber gesetzliche Regeln, zu denen nach der Rechtsprechung des BGH auch Naturgesetze, Denkgesetze und – man höre und staune – „gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse“ gehören.

Das bedeutet, eine vom Instanzgericht aus der Beweisaufnahme gebildete Überzeugung ist dann rechtsfehlerhaft, wenn sie diesen Regeln widerspricht oder unter Missachtung solcher Regeln zustande gekommen ist. Wenn das Gericht also feststellt, dass der Täter auf einem Mammut zum Tatort geritten ist, dann ist diese Feststellung fehlerhaft, denn jeder weiß, dass Mammuts ausgestorben sind. Ob das also ein Zeuge ausgesagt hat, ist im Ergebnis völlig egal.

Die Feststellung kann aber auch fehlerhaft zustande gekommen sein, z. B. indem das Gericht die Aussage eines Zeugen zu Grunde legt, deren Glaubhaftigkeit belegbar in Zweifel steht. Dieser Fehler passiert bei Gericht erstaunlich häufig, leider ohne dass dies von den Revisionsgerichten in angemessenem Maße sanktioniert würde. Dazu gehört beispielsweise die Aussage eines Polizeizeugen, er habe auf einer Brücke gestanden und die Geschwindigkeit eines fahrenden Autos ohne technische Hilfsmittel mit „100 km/h“ bemessen. Das kann nicht sein, denn Menschen haben keinen Geschwindigkeitssinn. Erstaunlicherweise gibt es immer wieder Menschen, die sich einen solchen Sinn einbilden, wissenschaftlich erwiesen ist das Gegenteil. Ein Gericht, das seine Überzeugungsbildung auf so eine Aussage stützt, macht einen Rechtsfehler.

Nicht hierher gehört übrigens der Grundsatz „in dubio pro reo„, denn der gilt nur als verletzt, wenn das erkennende Gericht bestehende Zweifel ersichtlich nicht überwunden hat. Dazu müsste ein Gericht seine eigenen Zweifel in den schriftlichen Urteilsgründen zunächst offen eingestehen, ohne sie anschließend auszuräumen. Das kommt praktisch nie vor.

Schlussbemerkung

Das Prinzip der Überzeugungsbildung ist ein wissenschaftliches, nämlich der so genannte „methodische Zweifel„; insbesondere muss das Gericht in seinen schriftlichen Urteilsgründen nachvollziehbar darlegen, wie es nahe liegende Zweifel überwunden hat.

Bei dem im Ausgangsfall geschilderten Zeugen dürfte das spannend werden: Meiner Auffassung nach ist es praktisch unmöglich. Die Zeugenaussage dürfte so gut wie wertlos sein, weil wissenschaftliche Erkenntnis ist, dass unter den geschilderten Umständen weder eine sichere Wahrnehmung noch eine sichere Wiedererkennung wahrscheinlich ist. Übrigens hat das Gericht den Angeklagten auch noch einer zweiten Tat für schuldig befunden – einer gefährlichen Körperverletzung – für die es dem Vernehmen nach überhaupt keinen Beweis gibt. Diese Tat hat nämlich nicht einmal der zweifelhafte Belastungszeuge gesehen.